Erinnerung

Erinnerung an die Stadt Hué

In Hué des Nachts bei Mondenschein
Geht ein Mann nach Hause – ganz allein
Und trifft auf zwei, die etwas angetrunken
Tief in ein Gespräch versunken.

Es geht um einen toten Dichter
Der tausend Worte hundert Lichter
Um Han Mac Tu und eine Frau vom Mond
Die in des Mannes Herzen wohnt.

Er kennt die Verse und er spricht
Man ist verwundert, glaubt es nicht,
Dass jemand auf der Straße sowas kann
Ein kleiner unscheinbarer Mann.

Er kommt am nächsten Abend ins Konzert
Das war’s dem Komponisten wert
Mit seiner kleinen Frau und einem Kind
Die mit Camille auf einem Foto sind.

(Gedicht von Wolfgang Sreter)

 

Interview

Gespräch mit dem Lyriker Rolf A. Leemann über

A Flight of Songs nach Gedichten von Tanikawa Shuntarô
für Sopran, Violine und Kontrabass

Der Fisch des Kolumbus nach einem Kleebild
für Violine, Gitarre und Kontrabass

Unter Mitwirkung des Orchestrio präsentieren sie als Gitarrist und Komponist eine Lesung mit Tanikawa Shuntarô. Wie sind sie auf ihn gekommen?
Vor einigen Jahren machte mich ein Freund auf ein Buch des in Japan wohl bekanntesten lyrischen Autors aufmerksam. Die Leichtigkeit und Tiefe seiner auf das konkrete Leben ausgerichteten Gedichte, sein menschenfreundlich surrealistisches Spiel mit Dingen und Gefühlen, sein unendlicher Einfallsreichtum, sein geistreicher und doch nicht kopflastiger Zugang zur Welt der Erwachsenen und Kinder nahmen mich sofort gefangen.
Nun haben Sie eine Serie seiner Gedichte vertont und stellen sie unter dem dem Titel „Flight of Songs“ vor.
Mit „Flight“ bezeichne ich einfach meine Auswahl als „Schwarm“ oder „Schar“, wobei die Vorstellung von fliehender Bewegung oder Anordnung (auch im Sinne von Häuserflucht, also Architektur) nicht unwillkommen ist. Und „Song“ soll nicht nur auf meine Vertonungen hinweisen, sondern spielt auf die Musik an, die sich bereits in den gegenüber jedem geregelten Kanon fröhlich subversiven Texten befindet.
Nun ist „Flight of Songs“ ja nicht Japanisch.
Es handelt sich bei englischen Versionen natürlich um Uebersetzungen, etwa von Harald Wright, und anderen. Die Texte werden im Urtest gelesen und gesungen, aber keine Angst! Dank Powerpoint werden Sie sie auf Deutsch (nach Eduard Klopfenstein) vor sich haben.
Können Sie selber Japanisch?
Ich bemühe mich schon eine ganze Weile darum und habe dank meiner japanischen Freunde und einiger Austauschanlässe eine gewisse Vertrautheit erreicht. Doch wie Sie wohl erraten: Japaner wird man nie, wenn man es nicht schon ist!
Wie kommen sie denn auf Klee?
Da gibt es viele Bezüge, was Gestaltungsprinzipien und Philosophie anbetrifft. Ausserdem hat sich Tanikawa Shuntarô selber mit Klee’s Engeln befasst. Und der Maler stammte aus einer Musikerfamilie, war mit einer Musikerin verheiratet…
Das spielt wohl weniger eine Rolle, als was durch sein „Bildnerisches Denken“ zur Grundlage jeder modernen Kunsttheorie geworden ist.
Für mich eine der wichtigsten Schriften. Wie er vom Kleinsten ausgehend seine systematischen Gedanken ausbaut und stets im Anschaulichen verankert, und so von minimalen Mustern zu polyphonen Strukturen gelangt…
Polyphonie ist ein musikalischer Begriff.
Das stimmt durchaus. Das Prinzip der Gleichzeitigkeit verschiedener Stimmen, etwa einer gerade entstehenden, einer zweiten gerade im Aufblühen befindlichen und einer dritten vielleicht bereits abklingenden können Sie auch in seinen Werken finden.
Dazu widerspiegeln sie immer die Auffassung, dass etwas gerade jetzt Erscheinendes nur ein winziger, wenn auch wichtiger, Aspekt von etwas viel Umfassenderen, von in tausend Variationsformen möglichen Gestalten ist. Alles im Strom, dem unendlichen Fluss der Zeit, und der Allgegenwärtigkeit des Zufalls. Und da sind wir auch wieder bei Tanikawa Shuntarô.
Und Bartok?
Ich weiss nicht, ob Klee und Bartok sich je trafen, oder sich aufeinander bezogen. Klee war auf Bach und Mozart eingeschworen und mochte Schönberg nicht. Aber als Geiger wird er wohl etwa das fünfte Streichquartett von Bartok gekannt haben.
Haben sie gewisse Gestaltungsprinzipien gemeinsam?
Das kann man wohl sagen. Wie schön, und in welch eindrücklicher Entsprechung hat Bartok doch seinen Mikrokosmos aufgebaut! Wie gründlich ist er der Beziehung einer einzelnen Klanggestalt, eines Kerns zum nächsten oder zur umgebenden Klangwelt nach gegangen.
Beide, Bartok und Klee, verdanken der Entdeckung verschiedener Kulturen viel, haben aber auch die schmerzlichen Erfahrungen des Exils gemacht.
Klee’s Tunesienerlebnis war ja entscheidend, und er sagt später auch, er habe fliegen müssen, um sich aus den Ruinen zu befreien. Um Befreiung aus politischer oder gestalterischer Enge, welcher Art auch immer, geht es wohl bei allen dreien, auch bei Tanikawa Shuntarô. – Erweiterungen des Denkens – Erheiterungen….
Worin bestand denn die Herausforderung bei der Vertonung seiner Gedichte?
Ich möchte vielleicht lieber von Anregung sprechen, weil das Wort Herausforderung so nach Leistungsstreben tönt. Da sind natürlich seine Sinnlichkeit, die Selbstverständlichkeit der metaphorischen Sprünge, die Verbindung von tiefer Empfindung und Lakonik, die beim Übersetzen in die musikalische Sprache Schwierigkeiten bereiteten.
Haben Sie ein Lieblingsgedicht?
Es gibt so viele! – Bilder? Zeilen? Wie etwa von Klee das Emblemchen des Fisches. … Den Fisch des Kolumbus, die Vorstellung, dass ihn niemand entdeckte, weil er unter der Santa Maria mitschwamm…
Von Tanikawa Shuntarô, meine ich.
Möchten sie etwa die Meergiraffe? Freigegeben zum Spiel der Asso- ziationen! – Oder hier: ich werfe Ihnen das Wollknäuel zu.

Schön flauschig und dick
hüpfend vor Freude
rollte das Wollknäuel
um die Strassenecke
unterwegs ohne Stadtplan